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Über Ethnopsychoanalyse

 
 

 

 
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„Ihr müsst alles mit allen teilen“ - ein ethnopsychoanalytischer Beitrag zu polygamen und monogamen Lebensformen am Beispiel der Himba

von Horst Brodbeck

Die zentrale ethnopsychoanalytische These lautet: Was für uns in unserer Gesellschaft durch die Kulturarbeit unbewusst geworden ist, tritt uns in einer anderen als Fremdheit entgegen. Kultur steht also im Dienste der Unbewusstmachung, worauf Mario Erdheim hingewiesen hat. Kulturarbeit verlangt Triebsublimierung, bietet dafür gesellschaftlich sanktionierte Formen an und dient dazu, so S. Freud, „Menschen zu großen Einheiten zusammenzufassen“. Kultur bietet demnach lebbare Lebensformen an, auch wenn der Einzelne daran leiden kann.

Die Ethnopsychoanalyse, von Georg Devereux, Paul Parin u.a. als eigenständiges Forschungsfeld in den fünfziger und sechziger Jahren für die Psychoanalyse hinzugewonnen, untersucht den Zusammenhang von „inneren und äußeren Verhältnissen“ nach den Regeln der psychoanalytischen Methode in einer fremden Kultur. Diese Methode nutzt die Analyse der Dynamik von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand zum Verstehen fremder, oft „befremdlicher“ Handlungs- und Bedeutungsstrukturen. Unausweichlich sind bei der Beobachtung des Fremden Verzerrungen durch den eigenen kulturellen Hintergrund. Ethnopsychoanalyse wird immer auch zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, mit dem Forschungsprozess selber und mit sich selbst als Person führen. Ist man in diesen Prozess eingetreten, erlaubt Ethnopsychoanalyse uns aber auch einen „befremdeten Blick“ auf die eigene Kultur und die darin gelebte „Normalität“ zu werfen.

Der Arbeitstitel greift ein allgemeines kultur-spezifisches Merkmal in einer uns fremden Kultur auf: „Ihr müsst alles mit allen teilen“. Diese Kultur bildende Maxime eines Volkes von nomadisch lebenden Menschen, die das Überleben in einer kargen, z. T. lebensfeindlichen Natur zu ermöglichen scheint, trifft auf die Kultur einer Gruppe von Psychoanalytikern, die westeuropäisch geprägt ist. Menschen aus einer „Kultur des Teilens“ treffen mit Menschen aus einer „Kultur des Besitzens“ zusammen. Damit öffnet sich ein ethnopsychoanalytisches Forschungsfeld. Es geht dabei um den Einfluss der Gesellschaft auf die Beziehung der Individuen. Gilt in unserer westlichen Kultur das Monogamie-Ideal, haben andere Völker die Polygamie zur Norm erhoben und exklusive Liebespaare geraten unter gesellschaftlichen Druck.

Im Jahr 2002 sind wir mit einer Gruppe von sechs Psychoanalytikerinnen und zwei Psychoanalytikern, einem Soziologen und einer Ethnologin für zwei Monate in Namibia bei den Himba gewesen, einer ethnischen Gruppe, die als Nomaden im Norden Namibias und im Süden Angolas leben und bis heute trotz mannigfaltiger Einflüsse ihre traditionelle Kultur bewahrt haben. Unser Ziel war es, mit psychoanalytischen Methoden in einer uns fremden Kultur mit den dort lebenden Menschen Gespräche zu führen und Beziehungen anzuknüpfen, die uns Einblicke geben können in die innere Welt der Individuen in ihrer Wechselwirkung mit den sozialen und kulturellen Realitäten und das im Spannungsfeld regressiver Prozesse durch wechselseitige Fremdheit. Unser Arbeitstitel war: “Die Begegnung mit dem Fremden - Ethnopsychoanalytische Erkundungen bei den HIMBA“.

Eine Pilotstudie aus dem Jahre 1999 (V.Friedrich, U.Wordell u.a.) hatte bereits ergeben, dass psychoanalytische Verfahren wie z.B. das szenische Verstehen bei Erstbegegnungen, trotz erheblicher Unterschiede in der semantischen Struktur, dort angewendet werden können, und dass es möglich ist, zu längeren Gesprächssequenzen zu kommen, die eine Auswertung von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen ermöglichen, alles aber eingebettet in einem ethnologisch abgesicherten Rahmen.

Keiner von uns, mit Ausnahme der Ethnologin, verstand die Sprache der Himba. Alle Gespräche konnten nur mit Hilfe von örtlichen Dolmetschern geführt werden. Dem zweimonatigen Feld-Aufenthalt ging eine 1 ½-jährige Vorbereitungsphase voraus. Diese diente im Wesentlichen drei Zielen:

Der Erarbeitung eines wissenschaftlichen Konzeptes

Dem Vertrautwerden mit der Himba-Kultur

Dem Vertrautwerden der Mitglieder der Gruppe untereinander

Später vor Ort kamen noch sechs Übersetzerinnen und zwei Übersetzer dazu.

Aus Platzgründen kann ich das Gesamtkonzept hier nicht im Einzelnen vorstellen. Ausgehend von Maya Nadig, Bremen verstanden wir unseren Ansatz als „Begegnung“, also interkulturell und intersubjektiv.

Ein wesentlicher Bestanteil unseres Konzeptes stellte ein dichtes Netz von ethnologischen Supervisionen und wechselseitiger psychoanalytischer Intervision unserer Gespräche dar. Wir hatten uns vor Ort in drei Gruppen aufgeteilt, die im Abstand von ca. 4 km in Zelten in unmittelbarer Nachbarschaft eines oder mehrerer Himba-Gehöfte (Onganda) lagerten. Die Gruppenmitglieder waren „Gäste“ der jeweiligen Gehöfte. Unsere Gesprächspartner waren meist dort lebende Familienmitglieder. Ein besonderes Problem ergab sich aus der häufigen Abwesenheit der Männer, was kontinuierliche Gespräche erschwerte, während die Frauen, da sie mehr Zeit im Gehöft verbringen, für häufige und vertiefte Gespräche zur Verfügung standen.

Die Himba leben im Kaokoveld im Nordwesten Namibias und im Südwesten Angolas in einem bis heute strukturell wenig erschlossenem Gebiet, einer weitgehend unberührten ariden Savanne. Lebensgrundlage der Himba sind ihre Herden, die wegen der spärlichen Weiden nur auf nomadische Weise erhalten werden können. Sie führen bis heute eine erfolgreiche traditionelle Wirtschafts- und Lebensweise als Hirtennomaden. In den letzten Jahren wurden sie einer breiteren Öffentlichkeit als „die roten Nomaden“ bekannt, dies auf Grund des leuchtend roten Ockers, mit dem die Frauen Körper, Frisur und Lederkleidung färben. Die Himba wurden nie christianisiert (im Gegensatz zu den Herrero) und sind noch immer einem Ahnenkult verpflichtet. Unter den Erwachsenen kann noch kaum jemand lesen. Dennoch sind sie in fast allen Bereichen des täglichen Lebens zunehmend mit den Errungenschaften und Herausforderungen der Moderne konfrontiert, darunter auch der Aids-Gefahr. Die Gesellschaft der Himba ist hierarchisch organisiert. Die Entscheidungsgewalt über soziale und wirtschaftliche Belange des Haushaltes, Religion und die politische Macht liegt bei den Männern. Frauen haben aber die Möglichkeit indirekter Einflussnahme. Von zentraler Bedeutung ist die größere Verwandtschaftsgruppe. Die verwandtschaftlichen Beziehungen definieren die gesamte soziale Interaktion. So werden z.B. alle erwachsenen weiblichen Verwandten von den Kleinkindern „Mama“ genannt, wenn auch „die Mama, die mich geboren hat“ eine heraus gehobene Bedeutung hat. Kleinkinder können so von allen „Mamas“ gestillt werden, was meist 2 – 4 Jahre der Fall ist. Die Erziehung beginnt früh und trotz eines großen Spielraums in der Kindergruppe ohne Aufsicht der Erwachsenen werden soziale Normen z.B. die Aufforderung zum Teilen immer wieder geübt. Das Wohl der Gemeinschaft und der Erhalt des Friedens in der Gemeinschaft haben oberste Priorität. Großzügigkeit und Bereitschaft zum Teilen werden erwartet. Persönlicher Besitz kommt vor, aber meist haben andere ein Mitspracherecht. Das soziale Gebot zu teilen ist nicht auf materiellen Besitz beschränkt. Auch die persönlichen Beziehungen und die Intimität von Liebe und Sexualität werden nicht nur mit einem Partner, sondern mit mehreren anderen geteilt. Sexualität ist nicht an Verheiratung gebunden. Ehe ist bei den Himba in erster Linie eine pragmatische Verbindung. Sie definiert die soziale Vaterschaft. Der Ehemann ist der legitime Vater aller Kinder seiner Frau, auch wenn diese von einem anderen Mann sind. Biologische Väter haben keine Rechte. Männer können mehrere Frauen heiraten (Polygynie). Oft leben die Ehepartner aber nicht zusammen. Ehepartner haben meist mehrere außereheliche Beziehungen. Dies zu tolerieren wird erwartet. Dies darf nicht mit Promiskuität verwechselt werden, denn diese Liebesbeziehungen gelten trotz häufig räumlicher Getrenntheit lebenslang. Der Partnerwahl sind zugleich strikte Grenzen gesetzt, die durch die verwandtschaftlichen Grade vorgegeben sind. Liebesbeziehungen werden mit äußerster Diskretion, allerdings im Sinne „öffentlicher Geheimnisse“ gehandhabt. Männer besuchen die Frauen, nie umgekehrt, und das nur nachts. Ausschließliche Liebesbeziehungen als Liebespaar sind verpönt.

Das Zusammenspiel polygyner Ehe und polygamer außerehelicher Liebesbeziehungen bei den Himba funktioniert im Allgemeinen gut. Es ist eingebettet in ein komplexes Werte- und Rechtssystem, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Dazu gehören Normen und Ideale in Bezug auf Charaktereigenschaften und Sozialverhalten. Während unseres Aufenthaltes bei den Himba konnten wir allerdings ein Paar kennen lernen, mit dem wir dann ausführliche Gespräche führten (die Gespräche mit der Frau führte Dr.med. Angela Köhler-Weisker, Frankfurt). Kao (Namen sind geändert) war jahrelang Liebhaber von Vatara, die seit früher Jugend mit einem älteren Mann verheiratet und Mutter vieler Kinder geworden war, von denen allerdings mehrere gestorben waren. Es war ein offenes Geheimnis, dass Kao und Vatara ein emotional eng verbundenes und außerordentlich aufeinander bezogenes Liebespaar waren und damit gegen die Traditionen verstießen. Sowohl der Ehemann von Vatara als auch der Liebhaber entsprachen charakterlich nicht den sozialen Erwartungen. Der eine war eifersüchtig, der andere eigensinnig. Der Ehemann hatte es darauf angelegt, das Liebespaar inflagranti zu ertappen, was einerseits verpönt war, andererseits ihm das Recht gab, den Liebhaber wegen Ehebruchs durch die Gemeinschaft bestrafen zu lassen. Die Strafe bestand in einer Anzahl Rinder als Entschädigung an den Ehemann. Diesem Spruch des Tribunals wollte Kao sich nicht beugen. Darüber kam es zu einem eskalierenden Konflikt mit den Chiefs. Während in den Gesprächen mit Kao der Autoritätskonflikt im Mittelpunkt stand, ging es in denen mit Vatara hauptsächlich um deren Schuldgefühle.

Unser umfangreiches Material, das wir aus diesen Gesprächen gewinnen konnten, lässt sich mit Hilfe der psychoanalytischen Kulturtheorie zu einer Reihe von Thesen zur Mono- und Polygamie verdichten, die wir in der Arbeitsgruppe zur Diskussion stellten. Unverkennbar ist die psychoanalytische Sichtweise durch unsere westliche Kultur geprägt.

These 1: Männer unterscheiden sich bezüglich einer natürlichen Veranlagung zu polygamen Wünschen nicht von Frauen. Für beide Geschlechter gilt, dass in der Ehe die Erfüllung all der aus der Ödipussituation der Kindheit entstandenen alten Wünsche gesucht wird und die Struktur der Gesellschaft eine Form für diese unsterblichen Wünsche vorgibt. Die Ehe ist damit aufgeladen mit starken unbewussten Wünschen.

These 2: Es droht aber Enttäuschung, denn die Realität entspricht niemals den im kindlichen Verlangen entstandenen inneren Bildern und der Partner ist immer nur ein Substitut des verlorenen Objektes.

These 3: Desillusionierung und Inzesttabu sind die beiden Faktoren, die zu einer geheimen Feindseligkeit und Entfremdung der Partner gegeneinander führen und sie ungewollt dazu bringen, nach neuen Liebesobjekten zu suchen. Dies ist die Grundsituation, die die Monogamie zu einem Problem werden lässt.

These 4: Der Ursprung des Monopolanspruches auf das Liebesobjekt liegt demnach in der oralen Phase, in dem Wunsch, das Objekt zu inkorperieren, um es für sich alleine zu besitzen, allerdings wie in allen oral bedingten Einstellungen mit einer hohen Ambivalenz.

These 5: Der Monopolanspruch auf Vaters oder Mutters Liebe führt zur Frustration und Enttäuschung und bringt Hass und Eifersucht mit sich. Diese früher oder später unvermeidliche Frustration beschädigt nicht nur unsere Objektliebe, sondern auch unsere Selbstachtung und hinterlässt eine narzisstische Narbe.

These 6: Daraus folgt, dass es hauptsächlich unser Selbstgefühl ist, dass eine monogame Beziehung fordert und dies umso gebieterischer, je empfindlicher die aus der frühen Enttäuschung stammende Narbe ist.

These 7: Zwischen dem Paar und der Gesellschaft besteht ein kontradiktorisches Verhältnis (S.Freud: „Gegnerschaft zwischen Geschlechtsliebe und Massenbildung“).

These 8: Sexuelle Intimität befreit das Paar von den gesellschaftlichen Konventionen und stiftet durch die Rebellion Identität. Das Paar braucht also die umgebende soziale Gruppe und kann aus ihr nicht flüchten.

These 9: Die Gruppe kann dem Neid und der Feindseligkeit gegenüber dem Paar, die aus dem Neid auf das Glück, die geheime Einheit der Eltern und auf die tiefe unbewusste Schuld aus ödipalen Strebungen hervorgehen, nicht entkommen.

These 10: Die Gruppe braucht ihrerseits das Paar als Träger der Hoffnung auf sexuelle Einheit und Liebe angesichts der inhärenten Destruktivität in der Gruppe.

These 11: Die Gruppe ist in sich gespalten. Einerseits versucht sie, sich mit dem frühen ödipalen Vater zu identifizieren, der als Hüter des Gesetzes, Besitzer aller Frauen und Bestrafer von Rebellion wahrgenommen wird, was die Tendenz zu autoritärer Strukturbildung und Idealisierung autokratischer Führer in der sozialen Realität verstärkt, andererseits ist sie mit dem ödipalen Wunsch, den Vater zu entthronen und zu töten, alle Frauen zu erobern und eine mythische Ära sexueller Freiheit zu erreichen, identifiziert. Daraus erwächst bei den Gruppenmitgliedern der Wunsch, den Kampf des „mythischen“ Helden gegen eine repressive Sozialordnung zu unterstützen.

These 12: Das „mythische Paar“ steht auf der ödipalen Ebene für die Einheit des Elternpaares, auf einer tieferen Ebene für die orale Einheit von Mutter und Kind, von Brust und Mund.

Daraus ergeben sich aus ethnopsychoanalytischer Sicht drei Fragen:

  • Sind exklusive Paarbeziehungen unter Erwachsenen das Erbe einer zu früh unterbrochenen Mutter-Kind-Einheit?
  • Neigen Männer eher dazu, defizitäre frühe Mutter-Kind-Erfahrungen und die darin enthaltenen oral-aggressiven Komponenten in Rebellion gegen den Vater umzuwandeln?
  • Neigen Frauen eher dazu, defizitäre frühe Mutter-Kind-Erfahrungen und die darin enthaltenen oral-aggressiven Komponenten in Schuldgefühle und Depression umzuwandeln?

Wenn dies so sein sollte, wirft es ein Licht auf die Grundsteine unserer „Kultur des Besitzens“ und des „Monogamie-Ideals“. Könnte es sein, dass unsere Leistungsgesellschaft und unsere „Kultur des Besitzens“ demnach das Erbe einer zu kurz geratenen oralen Lebensphase ist? Wenn S.Freud sagt, eine der Hauptbestrebungen der Kultur sei es, die „Menschen zu großen Einheiten zusammenzufassen“, so kann die Psychoanalyse allein die Erklärung nicht liefern, warum in unserem Teil der Welt der „Grundstein“ für unsere Kultur sich in dieser Weise ausdifferenziert hat, in einer anderen aber andere Lösungen für das „Zusammenfassen zu großen Einheiten“ entstanden sind. Um den Zusammenhang und die Interdependenz von „äußeren und inneren Verhältnissen“ zu untersuchen, brauchen wir als Psychoanalytiker den Dialog mit anderen Wissenschaften wie z.B. der Ethnologie.