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Über Ethnopsychoanalyse

 
 

 

 
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Aglaia Karatza-Meents

Über die traumatischen Auswirkungen der Migration am Beispiel der Kofferkinder.

 

Seit die Geschichte der Migration in Deutschland soziologisch und literarisch aufgearbeitet wird, werden mit „Kofferkinder“ jene Gastarbeiterkinder bezeichnet, die immer wieder zu Großeltern oder zu Verwandten geschickt oder bei ihnen zurückgelassen wurden.
Der Koffer ist nach Gülcin Wilhelm (2011) das Sinnbild für wortloses Weggehen, für Verlassenwerden, für Verlorenheit und Rastlosigkeit, die die Kinder bei diesem Hin- und Herpendeln selbst verspüren.

Migration ist zwar einerseits mit dem Schmerz der Entwurzelung verbunden, andererseits ist sie aber auch mit Hoffnung und mit Aufbruch verbunden, da sie die Möglichkeit bietet, unerträgliche, einengende Verhältnisse politischer, ökonomischer oder familiärer Art zu verlassen und sich auf neuen Wegen zu bewegen. In den 1960er, und 70er Jahren z.B. konnte  die durch die wirtschaftliche Not bedingte Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit für weite Teile der Bevölkerung der Mittelmeer-Ländern einen erlösenden Ausweg in der Gastarbeiterbewegung finden. So wurde für viele Bauer und Arbeiter in den oben genannten Ländern die Reise in das „gelobte Land“ nicht nur Lebenstraum, sondern eine ernstzunehmende Alternative.  

Nichtsdestotrotz ist aber die Migration auch eine Krisensituation, die eine massive Verunsicherung und Desorganisation mit sich bringt. Nicht ohne Grund wird diese Erschütterung, oft mit einem Erdbeben verglichen, denn  man kommt in ein Land, in dem man völlig fremd ist, während sich alle anderen auskennen. Es hängt von der Prädisposition der Persönlichkeit des Migranten und seiner Verarbeitungs- und Integrationsfähigkeit ab, ob eine Migration letztendlich einen positiven, entwicklungsfördernden Ausgang nimmt, oder ob diese Krisensituation als zerstörerisches Ereignis und traumatische Erfahrung unintegriert, unverarbeitet und konfus in die nächste Generation weitergegeben wird.

Von großer Wichtigkeit ist, ob es sich um eine gewollte, freiwillige oder um eine ungewollte, erzwungene Migration  handelt, weil die Art der Migration Einfluss auf die seelische Verarbeitung dieser Krisensituationen und auf das  Betrauern der Verluste hat. D. Zimmermann (2012. S. 20) zufolge ist die Auswanderung der Gastarbeiter als eine erzwungene  Migration anzusehen, da ein wirtschaftlicher, politischer oder sozialer Druck vorausging, der die Migration als einzigen Ausweg erscheinen ließ. Freiwillige Migrationen werden seiner Meinung nach in der Regel geplant und ermöglichen eine bewusste Abschiedsnahme, die den Trauerprozess erleichtert. Bei Zwangsmigrationen dagegen sind Trauerprozesse erschwert, weil gute Erinnerungen an das Vergangene, Heimatliche oft vergiftet werden durch negative, böse Gefühle des Ausgesetzt- und Ausgestoßenseins.

Untersuchungen zufolge hatten die Gastarbeiter nicht die Absicht, sich im Gastland niederzulassen. Wie das Anwerbeabkommen auch vorsah, richteten sie sich darauf ein, nach einer  begrenzten Zeit wieder in die Heimat zurück zu kehren und dort mit dem ersparten Geld eine wirtschaftlich eigenständige Existenz aufzubauen.  Man könnte es vergleichen mit Saisonarbeitern, die nur für eine Saison weggehen, die übrige Zeit aber zuhause bzw. in dem Heimatland bleiben. Man ging als Gastarbeiter zwar fort und das war sehr schmerzlich, es war sogar für viele eine Zerreißprobe, aber es wurde nicht als Trennung gewertet und betrauert. Wie ich dies auch aus meiner therapeutischen Erfahrung mit Migranten erster Generation und mit Patienten, die als Kinder hin und her pendelten, kenne, wurde die Trennung seitens der Eltern als solche nicht anerkannt und betrauert. Sie wurde verleugnet. Unter anderem schickte man wohl deshalb die Kinder zu den Verwandten ins Heimatland oder ließ sie dort zurück - das passte  in das Konzept des Sich-Nicht-Wirklich-Trennens. Die Kinder hatten eine Brücken- oder Scharnierfunktion zu erfüllen: über die Kinder hatten die Eltern ein Standbein im Heimatland, konnten  gleichzeitig aber auch im Migrationsland alle Pläne verwirklichen, ohne sich tatsächlich dort zu integrieren. So schien zunächst alles gut und möglich zu sein. Aber an die Bedeutung der frühen Trennungen und welche Auswirkungen sie möglicherweise auf die Kinder hatten, hat keiner gedacht, das blieb sprachlos und fiel einer allgemeinen Tabuisierung anheim - vielleicht bis heute noch. So kam es zur Verdinglichung der Kinder. Sie wurden wie ein Ding, wie ein Gegenstand, wie ein Koffer behandelt, der hin und her bewegt und abgestellt wurde.

Viele Frauen erlebten die Migration auch als eine Befreiung von familiären Abhängigkeiten. Sie konnten in der Fremde, weit weg von Mutter und  Schwiegermutter, ihr Leben selbst definieren. Anders als im Heimatland, in dem sie die wirtschaftliche Misere erdulden mussten, konnten sie in der Fremde ihr eigenes Geld verdienen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Manche dieser Frauen erlebten sich sogar zum ersten Mal als autonome Wesen, die die Möglichkeit und auch das Recht auf eine selbstbestimmte Lebens- und Zukunftsgestaltung hatten. Wie sollte man aber in eine solche Situation die Kinder integrieren? Man wollte doch zunächst dies wertvolle Gut der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung nicht aufgeben. War die Möglichkeit, die Kinder bei ihren Großeltern oder bei der Tante zu Hause zu lassen, nicht eine willkommene Lösung, die zunächst allen zugute zu kommen schien? Die Kinder waren allerdings die Leidtragenden. Vera Saller (2003. S. 252) zitiert E. Leyer, die bei türkischen Migrantinnen feststellte, dass deren Migration durch den Wunsch motiviert war, sich aus Abhängigkeiten zu befreien. Leyer zufolge übernimmt das Leistungsstreben im Gastland psychodynamisch die Funktion, eine erneute Abhängigkeit zu vermeiden: „indem sie sich selbst überforderten und ausbeuteten, hatten diese Menschen versucht, sich an ihr grandioses idealisiertes Bild des eigenen Selbst anzupassen. Der Preis für diese Anpassung ist eine permanente Selbstüberforderung und eine Überforderung der körperlichen Kräften, die zu psychosomatischen Krankheiten führt (Leyer E., S. 104).

Meines Erachtens geht das sogar noch weiter, denn der Preis für diese Anpassung war neben der  eigenen Überforderung die Traumatisierung der Kinder. Die Eltern mussten bis zur Erschöpfung funktionieren, um den eigenen überdimensionalen Ansprüchen und den harten Anforderungen im Gastland gerecht zu werden. Es gab keinen Platz für Emotionen. Seelische Prozesse, wie das Betrauern des Verlustes der Heimat, die Hilflosigkeit und Ohnmacht in dem fremden Land, der fremden Kultur und der fremden Sprache, all diese Vorgänge durften nicht existieren und deren Verarbeitung wurde auf die Zukunft verschoben. Die nächsten Generationen sollten damit fertig werden (Bar On 1996, S.20, zitiert in Plassman R., S.25). Die Folge ist, dass die Kinder sich emotional leer oder leblos sich fühlen.  Frau X, als Tochter von Gastarbeitern in Deutschland geboren, die mit 8 Mon. bei der Großmutter abgegeben wurde,  sagte: „Keiner hat mir Liebe gegeben. Ich fühlte mich oft vernachlässigt im doppelten Sinne, denn sie waren real abwesend, entweder bei der Arbeit oder sonst wo anders, sie waren aber auch emotional nicht da.“ Sie beschreibt die Eltern als leer, ohne Gefühle, immer sehr pragmatisch: „es ist als würde ich mit einem Stuhl sprechen“. und dann weiter: „meine Eltern wissen nichts anderes als nur arbeiten, pausenlos arbeiten und ich habe mich leer wie eine Maschine gefühlt“.

Nach Christian Giordano (1992) setzt die idealisierte Vorstellung, in der Fremde Geld verdienen zu können, um sich dann - irgendwann in ferner Zukunft - zu Hause als „gemachte Leute“ niederzulassen, die Prioritäten in vielen Migrantenfamilien. Die Kinder seien oft die Leidtragenden dieser Situation, in der die Eltern sich ganz aufs Geldverdienen konzentrierten, während die Kinder beliebig zwischen hier und dort verschoben würden.

 

 

Giordano, C. (1992): Die Betrogenen der Geschichte.
Überlagerungsmentalität und Überlagerungsrationalität in mediterranen
Gesellschaften. Frankfurt/M., New York (Campus).

Saller Vera (2003): Wanderungen zwischen Ethnologie und Psychoanalyse.
Tübingen. edition diskord,

Plassmann, R. (Hrsg) 2012: Transgenerationale Traumatisierung S.25.
Junfermann Verlag. Paderborn.

Wilhelm, G. (2011): Generation Koffer. Die zurückgelassenen Kinder.
Berlin (Orlanda Frauenverlag).

Zimmermann, D. (2012): Migration und Trauma. Gießen: Psychosozial Verlag.